Helene Lange gehört zu den wenigen Oldenburger Persönlichkeiten, die die Entwicklung unserer modernen Bildungs- und Wissensgesellschaft wesentlich beeinflusst haben. In den Jahrzehnten um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, von Historikern "Beginn der Moderne" genannt, erkämpfte sie das Abiturrecht für Mädchen und damit das Recht auf ein wissenschaftliches Studium für Frauen. Nicht alleine, aber doch gewissermaßen als "Frontfrau", hat sie diese "Kampfzeit" mit Büchern und Artikeln programmatisch geprägt und politisch vorangetrieben. Nach einem obligatorischen "Pensionsjahr" im Eninger Pfarrhaus bei Reutlingen beschloss sie, Lehrerin zu werden. Ihr Großvater lehnte dieses Ansinnen mit dem Argument ab, "das hat noch niemand im Oldenburger Land getan".
Dennoch betrieb sie autodidaktisch ausgedehnte Studien in deutscher und französischer Literatur und Grammatik, Geschichte und Philosophie und ging 1871, volljährig und mit einer kleinen Erbschaft ausgestattet, nach Berlin, in die neue Hauptstadt des gerade gegründeten Kaiserreichs. Dort legte sie 1872 das Lehrerinnenexamen ab.
Später engagierte sie sich publizistisch und politisch für die Rechte der Frauen, denn die Grundlagen aller Bildung seien "zweifellos allgemein menschlich, nicht männlich".
Hilke Günther-Arndt
(R.K.)
Im Alter von 17 Jahren entschloss sich Adelheid Mommsen (1869-1953), eine Tochter des Berliner Professors für Alte Geschichte und Nobelpreisträgers für Literatur Theodor Mommsen (1817-1903), der "trostlosen Öde" eines heranwachsenden jungen Mädchens aus 'gutem Hause', deren Leben daran bestand, wie sie schreibt, "Staub gewischt und Rosinen abgestielt" zu haben, zu entfliehen:
"Immerhin klopfte mir das Herz gewaltig, als ich in das Zimmer [meines Vaters] trat und meine Bitte vortrug, in das Seminar gehen und Lehrerin werden zu dürfen. Ohne jedes Bedenken stimmte der Vater zu; ja, er begrüßte meinen Entschluß als eine Erleichterung seiner wirtschaftlichen Lage, denn er sei nicht imstande, seine fünf unversorgten Töchter sicherzustellen. [...]
Mit großer Sorgfalt hat er mir den Weg geebnet. Zunächst bat er einen jüngeren Freund, den Schulinspektor Jonas, sich meiner anzunehmen, meine Fähigkeiten zu prüfen und mir weiter zu raten. Auf seine Empfehlung meldete mich meine Mutter in der Crainschen Schule, d. h. im Seminar von Helene Lange an. Eine glücklichere Wahl konnten die Eltern nicht treffen. [...]
Helene Lange hat auch auf meine menschliche Entwicklung einen ausschlaggebenden Einfluß gehabt. Unter ihrer Leitung lernten wir Seminaristinnen wahrlich mehr, als die Prüfungsordnung verlangte. Mit Ausnahme von zwei oder drei Fächern erteilte sie im letzten Jahr den gesamten Unterricht, und ohne das Stoffliche zu vernachlässigen, wußte sie in jedem Fach die eigentlich bildenden Elemente - logische wie ethische, philosophische wie ästhetische - in den Vordergrund zu stellen. Daneben wurden wir tief in Frauenfragen eingeführt, die am Ende des [19.] Jahrhunderts so heiß umstritten waren. Aber nicht von Frauenrechten war in erster Linie die Rede, die Rechte waren zum wenigsten so innig mit den Pflichten der Frauen verbunden, daß diese Pflichten für den uns anvertrauten Kreis - sei es in oder außer dem Hause, für den Beruf, die Gemeinde, das Volk - das Ausschlaggebende waren. Bessere Bildungsmöglichkeiten wurden für die Frauen gefordert, damit sie Besseres leisteten. Für uns, die werdenden Lehrerinnen, hieß das: das Höchste erreichen, um dem heranwachsenden Geschlecht gegenüber unseren Platz voll ausfüllen zu können [...].
Meinem Vater lagen diese Fragen an sich fern; [sie] gewannen [...] für ihn wohl nur durch mich Bedeutung. Als er sich aber auf meine Bitte hin entschloß, Helene Lange einmal einzuladen, stand auch er im Bann dieser seltenen Frau. Kurze Zeit danach nahm er an der Feierlichkeit teil, in der Helene Lange im Beisein der Kaiserin Friedrich die Gymnasialkurse in Berlin eröffnete und damit den ersten Schritt auf dem Wege tat, der auch in Preußen die Frauen zur Hochschule führen sollte."
Quelle: Adelheid Mommsen, Mein Vater. Erinnerungen an Theodor Mommsen, München 1992 (erstmals 1936), S. 90-93.