Kafka und Brecht gelten meist als Antipoden. Sie werden politisch gegeneinander in Stellung gebracht, selten als spannende Konfiguration des 20. Jahrhunderts verstanden. Ihre Rezeption antiker Mythen zum Beispiel ist jeweils für sich höchst originell, sehr unterschiedlich in Methode und Intention. Aber ist sie einem ähnlich humanen Boden entwachsen? Brechts Mythenberichtigung in „Odysseus und die Sirenen“ (1931) war angeregt worden von Kafkas Mythenrezeption „Das Schweigen der Sirenen“. Welcher Einfluss liegt hier vor? Übt Brecht hier Kritik an Kafka?
Der Referent, ein ausgewiesener Kenner des Gesamtwerks beider Klassiker des 20. Jahrhunderts, deren Jubiläen in dieses und das letzte Jahr fielen (Kafka 1883-1924; Brecht 1898-1956), wird uns beide Autoren mit dem Fokus auf die Auseinandersetzung Brechts mit Kafka nahebringen.
Brechts Gesamteinschätzung des Werkes von Kafka ist kurz vor 1933 und kurz danach im Tenor identisch – und in der Kritik unverändert. Kafka schildere mit „großartiger Phantasie“, so Brecht, die kommende Rechtsunsicherheit, die kommende Verabsolutierung des Staatsapparats, das dumpfe Leben der vielen einzelnen. Das ist die prophetische Kraft Kafkas, die Brecht als Lektüreeindruck in Gesprächen immer erneut formuliert.
Fast milde allerdings bewertet Brecht insgesamt einen Sachverhalt, den er ansonsten extrem negativ bei Kafka anmerkt: Dunkelheit, Undurchsichtigkeit, Tiefe, Verworrenheit. Bei Kafka walte oft eine „Stimmung der Ausweglosigkeit“, und man brauche Schlüssel wie bei Geheimschriften. Nicht der Dichter aber habe versagt, sagt Brecht, sondern der Leser sei gefordert. Einige Schriften kämen wie illegale Zuschriften, „dunkel aus Furcht“, daher. Und selbst die Furcht scheint für ihn nicht irrational zu sein, sondern gesellschaftlich verortet. Es sei eine „Furcht vor der Polizei“. Bestand, so Brecht, habe ein erheblicher „Alpdruck“ unter Einschluss von Wirrnis und Unlogik. Hier greift Brechts geschichtliches Koordinatensystem und versucht Orientierung.
Insgesamt und bis heute spielt in der Rezeption der Bilder und Figuren aus den Werken Kafkas der Kipppunkt ins Absurde oder Komische eine erfrischende Rolle. Die Comiczeichner haben den Grenzraum, in dem Kafka wirkte, entdeckt und produzieren Filme und Comic-Hefte, unbeeindruckt von der Kenntnis, dass Kafka sich gegen eine Verbildlichung seiner Phantasieprodukte energisch gewehrt hat. Zum Glück hat man auch hier nicht auf Kafka gehört, wie auch sonst nicht. Es gäbe sein ganzes Werk heute nicht mehr.
Brechts Ausweg aus den Irrationalitäten und Paradoxien, so Wagners These, ist der Sprung in die Binnenwelt der gesellschaftlichen Praxis, wo erkennbare Dinge von uns – und für uns – verändert werden können. Es ist das Leitmotiv der älteren Aufklärung, in der Brauchbarkeit und Nützlichkeit noch einen positiven Klang hatten. Oder noch weiter zurück: Die alte chinesische Literatur sprach von einem Leiden der Brauchbarkeit. Das Leiden, dies ist Brechts Position: Es dauert an.
Im Anschluss an den Vortrag gibt es die Möglichkeit zur Diskussion und zum gegenseitigen Austausch.
Frank D. Wagner lehrte lange Jahre an der Uni Oldenburg. Er studierte in Bonn und Tübingen die Fächer Germanistik, Philosophie und Pädagogik, wurde 1973 in Bonn mit einer Arbeit über „Hegels Philosophie der Dichtung“ promoviert und habilitierte sich 1986 in Oldenburg mit einer Studie über „Bertolt Brecht. Kritik des Faschismus“. Mitarbeit an verschiedenen Editions- und Forschungsprojekten, u.a. zu Carl von Ossietzky und Arnolt Bronnen.
Veröffentlichungen u.a.: Frank Wagner, Antike Mythen. Kafka und Brecht, Würzburg 2006