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Neues aus der LBO

Sensationsfund wird zum Puzzlespiel

Rudolf Fietz und Gisela Niemöller sprechen über Mopsa Sternheims verloren geglaubten Roman „Im Zeichen der Spinne“ und die Arbeit mit dem Manuskript

Von Leon Werth

Ein alter Koffer mit hunderten von unsortierten Blättern: So offenbart sich das Manuskript des einzigen Romans von Mopsa Sternheim ihren Herausgebern. 2015 gelangt der Koffer als Ergänzung zum Nachlass des in Oldenburg geborenen Kunsthistorikers Gert Schiff in die Landesbibliothek Oldenburg. So wie Sternheim schon während des Schreibens immer auf der Suche nach der richtigen Form ist, machen es sich Rudolf Fietz und Gisela Niemöller zur Aufgabe, diesen Schatz in Form zu bringen. Nun kann der verloren geglaubte Roman endlich erscheinen.

Erzählt wird im Wechsel die Geschichte von Vivan und Michael, die von den Gegensätzen zwischen künstlerischer Selbstverwirklichung und hartem Alltagskampf geprägt ist. Es geht um die Glanz- und Schattenseiten der „Goldenen Zwanziger“ und die Gräuel des Nationalsozialismus. In Zwischenkapiteln erörtert die Autorin gesellschaftstheoretische und moralphilosophische Fragen. Wer aber war Mopsa Sternheim?

Eine „Tochter von …“

Mit ihrer Neigung zur Exzentrik, den wechselnden, auch gleichgeschlechtlichen Affären und ihrer Medikamentenabhängigkeit, die zum Beispiel in einer kurzen Szene in Heinrich Breloers Film Die Manns – Ein Jahrhundertroman (2001) illustriert wird, ist Mopsa Sternheim nicht hinreichend beschrieben. „Sie war eine tief nachdenkliche Person“, erklärt Gisela Niemöller. Schon sehr früh habe sie begonnen, Dostojewski und Tolstoi zu lesen. Schwere Literatur, die mitunter aufs Gemüt geht.

Als „Tochter von …“ wird Dorothea, genannt „Mopsa“ Sternheim am 10. Januar 1905 in Oberkassel bei Düsseldorf geboren: Der durch ihre Eltern Carl und Thea Sternheim bekannt gewordene Nachname ist Segen und Fluch zugleich für ihre Ambitionen, sich selbst künstlerisch zu verwirklichen. In den 1920ern macht Sternheim eine Ausbildung im Zeichnen an der Kunstakademie Dresden und eine Lehre zur Kostüm- und Bühnenbildnerin am Theater Köln.  Sie schließt Freundschaft mit anderen ‚Künstlerkindern‘, wie Pamela Wedekind, Klaus und Erika Mann. Ihre Mutter Thea ist nicht begeistert. „Sie lebte ein Leben durch die Widersprüche hindurch“, sagt Rudolf Fietz. Dies zeichnet sich auch in ihrem Roman ab: „Ich bin immer sowohl als auch“ stellt Sternheim fest.

Mit der Schauspielerin und Schriftstellerin Ruth Landshoff hat sie eine längere Beziehung, über die sie auch Annemarie Schwarzenbach kennenlernt. Dem französischen Surrealisten René Crevel zeigt sie das pulsierende Berlin. 1929 heiratet sie den österreichischen Maler und Grafiker Rudolph Carl von Ripper. Über allen schwebt jedoch ein anderer: Gottfried Benn.

Unter den Texten von Benn

Schon in jungen Jahren ist sie fasziniert von der Lyrik Gottfried Benns, der mit ihrer Mutter befreundet ist. In Berlin haben sie eine kurze Affäre. „Benn war sehr prägend, auch wenn er die Liebe nicht so ernst nahm wie Mopsa Sternheim“, erklärt Fietz. In Lea Singers Roman Die Poesie der Hörigkeit (2017) werde diese fast schon obsessive Zuneigung zu dem 19 Jahre älteren Mann deutlich. Einen Suizidversuch nach der Trennung überlebt Mopsa Sternheim. Nachdem sie 1943 als Aktivistin der französischen Résistance in eine Gestapofalle gerät und ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wird, vergleicht sie ihre dortigen Erfahrungen mit seinen Gedichten: „‚Ich lebe immer unter den Texten von Benn‘ schreibt sie“, so Gisela Niemöller.

In Sternheims Roman tritt Benn als der Arzt und Dichter Dr. Goll in Erscheinung. Unvermeidlich ist es, auch weitere Parallelen zu erkennen: Auch Vivan führt es nach der Emigration ihrer Familie aus Belgien in die Schweiz zunächst ins schillernde Berlin und anhand von Michael verarbeitet Sternheim die eigene sowie Rudolph Carl von Rippers Gefangenschaft in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten.

Ein reiner Großstadt-Roman im Stil von Irmgard Keun oder Vicky Baum sei es demnach nicht, erklären die Herausgeber. Der Wallstein-Verlag verweise auf Gabriele Tergit; die Sozialreportagen schreibende Journalistin Maria Leitner könnte Vorbild für die Protagonistin gewesen sein, berichtet Niemöller. Statt aber große Vergleiche anzustellen, lohnt sich der Blick auf Sternheims eigene Arbeitsweise: „Sie war immer auf der Suche nach der idealen Form für den Roman – die Form, die sich aus dem Inhalt ergeben sollte.“   

Puzzlearbeit

Diese Suche, dieses Ringen mit sich selbst, ist auch im Manuskript erkennbar: „Es gibt kein Blatt, das ohne Korrekturen oder Varianten auskommt“, so Fietz. Zum Teil habe Sternheim drei alternative Begriffe über das zunächst verwendete Wort geschrieben. Der Roman erscheine deshalb auch nicht in einer autorisierten, sondern rekonstruierten Fassung. Sehr viele Entscheidungen lagen also bei den Herausgebern: „Wir wollten eine Lesefassung, keine kritische Edition.“ Den Anfang zu finden, sei am schwierigsten gewesen: „Wir haben mit der Transkription längerer Textteile begonnen“, erklärt Fietz. „Danach wurde gebastelt.“

Im April 2024 dann ein unerwarteter Antrieb für das Editionsprojekt: Die Stiftung Dr. Gert Schiff hat den Kontakt zu den Erben von Helmuth Steenken, einem Vetter von Gert Schiff, hergestellt. In Steenkens privatem Nachlass findet sich ein umfangreiches Typoskript von Teilen des Romans. Dieses bestätigt Fietz und Niemöller in ihrer bisherigen Rekonstruktion der Handlung, ist aber voller weiterer Varianten und Korrekturen. So werden vor allem bestehende Lücken geschlossen. Es entsteht eine Lesefassung, die sich sehen lassen kann: „Wer den Roman liest, liest ihn nicht als Fragment“, versichern die Herausgeber.

Ein Text kommt abhanden

Nach der Befreiung aus dem KZ Ravensbrück durch das Schwedische Rote Kreuz kehrt Mopsa Sternheim nach Paris zurück, wo sie weiter an ihrem Roman arbeitet. An einer Krebserkrankung stirbt sie im September 1954, ohne ihn veröffentlicht zu haben. Ihr guter Freund Gert Schiff, wird mit dieser Aufgabe betraut. 1955 schickt er eine Abschrift des Romans an den Rowohlt Verlag, der eine Publikation ablehnt. Die Mopsa-Sternheim-Biografin Ines Rieder behauptet: Bei dem folgenden Versuch, den Roman an eine Schweizer Literaturagentur zu schicken, müsse der eingereichte Text verschwunden sein. „Dafür finden sich allerdings keine Belege im Briefwechsel von Gert Schiff und Thea Sternheim“, erklärt Fietz.

Dennoch: Eine vorzeigbare finale Abschrift muss als verschollen gelten, während das ‚Rohmaterial‘ nach dem Tod von Gert Schiff insgeheim in einem Koffer schlummert: Im Erbgang von Schiffs Mutter geht dieser 1992 an Elfriede Loheyde, eine Freundin der Familie. Diese gibt den Koffer 2015 als Depositum an die Landesbibliothek Oldenburg. Die Eigentumsrechte an den Materialien im Koffer liegen noch heute bei der von Loheyde gegründeten Stiftung Dr. Gert Schiff, die sich großzügig an der Finanzierung von Mopsa Sternheims Roman beteiligt hat.

Der Fund und die Editionsarbeit geben eine filmreife Geschichte ab – nur dass Rudolf Fietz und Gisela Niemöller anders handeln als die Figuren in solchen Streifen wie Der Dieb der Worte (2012) oder Der geheime Roman des Monsieur Pick (2019): Statt das Manuskript für ihr eigenes auszugeben, setzen sie alles daran, die Schriftstellerin Mopsa Sternheim wieder bekannt zu machen. Über das nun doch sehr verzögerte Erscheinen ihres Romans sind sie sich einig: „Das war ihr Lebenswunsch.“

Mopsa Sternheim: Im Zeichen der Spinne. Roman. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Rudolf Fietz und Gisela Niemöller. Wallstein Verlag 2025, ISBN 978-3-8353-5970-3, 24 Euro (D). LBO-Signatur: FH: Texte 070/Stern 25-873.  

Stand: 10.11.2025